«Kyrie eleison» – unser Hungertuch im Basler Münster
Jugendliche des kirchlichen Unterrichts und Konfirmierte haben zur Passionszeit 2022 ein «Hungertuch» fürs Basler Münster gestaltet. «Mit unserem Hungertuch wollen wir an eine alte Tradition des Alpenraums anknüpfen und an die Passion Christi und das Leid in der Welt erinnern. Dabei ist es uns wichtig, trotz aller Trauer nicht im Dunklen und Unfassbaren zu verharren, sondern bereits in der Passion den Blick auf das österliche Versprechen zu lenken», sagt Britta Pollmann, Jugendarbeiterin am Basler Münster, die das Projekt mit den Jugendlichen durchgeführt hat. Das Hungertuch der Jugend am Münster trägt den Titel: «Kyrie eleison – Herr, erbarme dich».
Die Tradition der Fasten- und Hungertücher
Die Tradition des Aufhängens sogenannter Fasten- oder Hungertücher in der Passionszeit reicht ins Mittelalter zurück und ist auch für das Basler Münster für das 15. Jh. belegt: In den Rechnungsbüchlein der «Fabrica» (= «Vorgängerin» der Münsterbauhütte) werden «hungertüecher» erwähnt (Mitteilung von Dorothea Schwinn Schürmann).
Bis ins 12. Jahrhundert waren Hungertücher eher schlicht gehalten. Sie verdeckten die bunten Altäre und wurden vor den Chorraum gehängt. Später wurden die Tücher farbig gestaltet. Die Tradition der Hungertücher ist nicht allein einer Konfession vorbehalten und wurde auch nach der Reformation in den Ursprungsgebieten wie beispielsweise dem Alpenraum fortgeführt. Mit der Aufklärung verschwand sie fast, erlebte aber in den 1970er Jahren einen neuen Aufschwung. Berühmt wurden vor allem die von dem katholischen Hilfswerk Misereor publizierten Hungertücher verschiedener Künstlerinnen und Künstler, die jährlich mit einem neuen Motiv in verschiedenen Kirchen zu finden sind.
Die Bedeutung der Hungertücher als Anspielung auf den Vorhang im Tempel
Fasten- oder Hungertücher nehmen Bezug auf den Vorhang im Tempel in Jerusalem, der in der Schilderung der Kreuzigung eine Rolle spielt und mit dem Tode Jesu zerreisst (Mt 27,51; Mk 15,38; Lk 23,45). Daher wurde traditionell das Hungertuch am Karsamstag vor Anbruch der Osternacht wieder entfernt. So geschieht es auch im Jahr 2022 wieder im Basler Münster.
Unser Hungertuch war in den letzten drei Wochen der Passionszeit bis Karsamstag im Münster zu sehen. Es hing in der nach Osten orientierten Nische im nördlichen Querhausarm. In einem Augenblick der Stille sollte es dazu anregen, des Leids und der Erlösung zu gedenken.
Wie es dazu kam – wir fertigen ein Hungertuch für das Basler Münster 2022
Im kirchlichen Unterricht haben wir das Hungertuch «Tree of life» von Jacques Chéry aus Haiti (1982) besprochen. Ein buntes Hungertuch mit dem Baum des Lebens und Jesus im Zentrum. Viele Szenen mit biblischen und aktuellen Bezügen sind dargestellt. Das Hungertuch von Jacques Chéry zeigt nicht nur Leid und Erlösung, sondern ist auch ein Sinnbild für die Kontextuelle Theologie, in der im aussereuropäischen Christentum sakrale Kunstwerke entstehen.
Im Januar 2022 hat den Unterricht zum Hungertuch aus Haiti unsere Praktikantin und Jugendleiterin Salome Spichty mitgestaltet und es entstand bei der Unterrichtsvorbereitung die Idee, selbst ein Hungertuch mit den Jugendlichen des kirchlichen Unterrichts zu entwerfen und für das Münster anzufertigen. Nach der Bewilligung eines entsprechenden Antrags an die Münsterkommission arbeiteten im kirchlichen Unterricht und an zwei Jugendtreffs insgesamt 27 Jugendliche an dem Hungertuch. Bei der Fertigstellung halfen zusätzlich zwei freiwillige Erwachsene, geleitet wurde das Projekt von Britta Pollmann, Jugendarbeiterin am Basler Münster.
Die Gestaltung – reformiert schlicht und doch edel
Unser Hungertuch sollte mit dem Kirchenraum im Münster korrespondieren. Besinnend auf die Ursprünge der Tradition wählten wir eine schlichte Gestaltung, fast filigran. Mit dunklem Baumwollgarn stickten die Jugendlichen Erde, Kreuz und Baum. Früchte und Text wurden mit Goldstoff appliziert. Die Taube in Weiss auf dem hellbeigen Untergrund hebt sich durch ein goldenes Band ab. Wie beim Hungertuch von Jacques Chéry haben wir den Baum des Lebens und Christus ins Zentrum gesetzt. Den Kontrast zwischen Leid und Erlösung haben wir durch die Farbwahl und das Material ausgedrückt. Die Verheissung der Versöhnung und des Friedens ist auch bei uns wie auf dem Hungertuch von Haiti ein wichtiges Thema – nur wählten wir eine andere Symbolik.
Unser Hungertuch – ein Gebet
Unser Hungertuch ist ein Gebet. Es trägt den von den Jugendlichen gewählten Titel: «Kyrie eleison» - auf dem Hungertuch selbst in griechischen Lettern dargestellt. Übersetzt heisst dies «Herr, erbarme dich».
Für die Gestaltung des Hungertuches liessen wir uns nicht nur von dem Hungertuch aus Haiti inspirieren, sondern wählten das ökumenische Passionslied «Holz auf Jesu Schulter» (Lied Nr. 451 im evangelisch-reformierten Gesangbuch) als Grundlage.
«Holz auf Jesu Schulter, von der Welt verflucht, ward zum Baum des Lebens und bringt gute Frucht.»
Die Begriffe und Metaphern aus allen Strophen des Liedes finden sich in unserem Hungertuch. In der Bibel suchten wir nach Beschreibungen zum Baum des Lebens (Gen 2,9; 3,22 und 24; Offb 22,2). Die nachfolgende stichwortartige Zusammenstellung mag Anlass zu eigenen Überlegungen, Gedanken oder einem Gebet geben.
«Kyrie eleison – sieh, wohin wir gehn. Ruf uns aus den Toten, lass uns auferstehn.»
Eindeutig mehrdeutig – die Symbolik
In der Mitte: das Kreuz, das zum Baum des Lebens wird – daran 12 Früchte (die in der Bibel immer wiederkehrende symbolische Zahl 12 bezieht sich hier auf die Beschreibung des Lebensbaumes in der Offenbarung des Johannes: in jedem Monat reifen Früchte): Das Kreuz steht für Leid, Trauer, Qual und Tod – der Lebensbaum ist ein wichtiges Motiv aus dem Paradies. Lebensbäume, die zwölf Mal Früchte tragen, sind auch Zeichen der verheissenen «Daseinsfülle in einer vollendeten Welt» wie in der Johannesoffenbarung geschildert.
Unten: die Erde, die Welt, aus der das Kreuz und das Leid, aber auch der Baum erwächst
Schwarz: Erde/Welt und Kreuz/Lebensbaum sind in schwarz gehalten – Trauer/Leid
Das Gebet/der Refrain des Liedes: Kyrie eleison (auf Griechisch) sowie die Früchte in Gold – als Zeichen göttlichen Wirkens und der Reinheit; das Wort «Kyrie» kommt von oben herab und das Wort «eleison» als an Gott gerichteter Hilferuf steigt von der Erde empor.
Im Zentrum des Hungertuchs – und in der Mitte am Kreuz und des Lebensbaumes: Jesus – symbolisiert durch die griechischen Buchstaben Chi und Rho als Christusmonogramm (CHRistos), gleichzeitig auch in der schon seit der frühen Kirche üblichen Lesart als die lateinischen Buchstaben P und X für PAX = Frieden; Christus als Friedensfürst und Hinweis auf den Frieden, der den Menschen verheissen ist.
Die Taube (diese kommt nicht im Lied vor, aber wir haben sie bewusst ergänzt): von oben herab kommend auf Christus folgt sie der ikonografischen, christlichen Tradition der Symbolisierung des Heiligen Geistes in Anlehnung an die Schilderung der Taufe Jesu (Mk 1,9-11; Lk 3,21-22; Joh 1,32-34), im Neuen Testament hat auch die Taufe einen staken Bezug zu Busse und Verkündigung des Reich Gottes. In reformierter Tradition verzichten wir auf einen Heiligenschein, das dünne Goldband macht die weisse Taube jedoch auf dem hellen Tuch besser sichtbar und verweist auch hier auf das Göttliche; in ihrer Schlichtheit ist auch die Taube doppeldeutig: wer möchte, kann hier auch eine Friedenstaube sehen. Auch diese Interpretation ist möglich und eine Mehrdeutigkeit ebenso wie beim Christusmonogram bewusst gewählt.
In unserer diesjährigen Osterkerze greifen wir Motive aus dem Hungertuch wieder auf und führen sie in der österlichen Botschaft weiter, die Zusage der Versöhnung, des Friedens und der Erlösung bekommt dort noch mehr Gewicht.
Projektleitung: Dr. Britta Pollmann,
Informationen zum Hungertuch der Jugend am Münster 2022 zum Download als pdf.
Weitere Informationen zu Gottesdiensten am Münster finden sie hier.
Liedtext "Holz auf Jesu Schulter" (Lied 451)
Holz auf Jesu Schulter, von der Welt verflucht,
Ward zum Baum des Lebens und bringt gute Frucht.
Kyrie eleison, sieh wohin wir gehn.
Ruf uns aus den Toten, lass uns auferstehn.
Wollen wir Gott bitten, dass auf unsrer Fahrt
Friede unsre Herzen und die Welt bewahrt.
Kyrie eleison, sieh, wohin wir gehn.
Ruf uns aus den Toten, lass uns auferstehn.
Denn die Erde klagt uns an bei Tag und Nacht.
Doch der Himmel sagt uns: Alles ist vollbracht.
Kyrie eleison, sieh, wohin wir gehn.
Ruf uns aus den Toten, lass uns auferstehn.
Wollen wir Gott loben, leben aus dem Licht.
Streng ist seine Güte, gnädig sein Gericht.
Kyrie eleison, sieh, wohin wir gehn.
Ruf uns aus den Toten, lass uns auferstehn.
Denn die Erde jagt uns auf den Abgrund zu.
Doch der Himmel fragt uns: Warum zweifelst du?
Kyrie eleison, sieh, wohin wir gehn.
Ruf uns aus den Toten, lass uns auferstehn.
Hart auf deiner Schulter, lag das Kreuz, o Herr,
Ward zum Baum des Lebens, ist von Früchten schwer.
Kyrie eleison, sieh, wohin wir gehn.
Ruf uns aus den Toten, lass uns auferstehn.